LEBEN NACH DEM HERZINFARKT

Schmerzen, Todesangst, Vernichtungsgefühl – kaum ein anderes Krankheitsgeschehen verläuft so unmittelbar dramatisch wie ein Infarkt des Herzens. Nie ist nur der Körper des Menschen betroffen, sondern immer auch die Seele. Die Wissenschaft, Psychokardiologie, untersucht, wie Herzinfarkt und Seelenleben zusammenhängen.

Es war ein Tag wie jeder andere. Unzählige Zigaretten, üppiges Mittagessen, beruflich und privat Stress pur. Dann ein plötzlicher Schmerz, der bis ins Unterkiefer ausstrahlt, und ein vernichtendes Brennen. Schweißnasse Hände, die sich im verzweifelten Ringen um ein wenig Luft fahrig auf den Brustkorb pressen. Und Todesangst. Dann wird es dunkel. Als er wieder klar denken kann und das Atmen leichter fällt, hört er die Diagnose des Arztes: Herzinfarkt. Er ist neunundvierzig Jahre alt.

In den westlichen Industrieländern sind Herz- Kreislauferkrankungen Todesursache Nummer eins. Es überleben zwar heute dank der modernen Medizin mehr Menschen als früher, aber immer noch sterben in Österreich jährlich rund 18.ooo Frauen und 14. 000 Männer. Der Herzinfarkt ist unter den Männern weiterverbreitet, die Frauen holen in dieser traurigen Statistik allerdings rasant auf.

Unser Herz ist ein Motor, der die ganze „Maschine Mensch“ in Gang hält. Es schlägt 70 Mal in der Minute, 4000 Mal in der Stunde und zirka drei Milliarden mal in siebzig Jahren. Mit 100000 Schlägen pro Tag transportiert es 10 000 Liter Blut – ohne Unterbrechung, Wartung oder Service. Es ist eine ehrfurchtgebietende Hochleistungsmaschine, deren Stillstand für den Menschen schnell lebensbedrohlich wird.

Wie entsteht ein Herzinfarkt? Prim. Dr. Karl Schmoll, Facharzt für Kardiologie und ärztlicher Leiter der Sonderkrankenanstalt der gewerblichen Wirtschaft: „Es kommt zu einem Verschluss an einer bereits vorgeschädigten Stelle im Gefäß. Dadurch entsteht eine Mangeldurchblutung in dem Bereich. Wenn das Gewebe dabei völlig abstirbt, bleibt eine Narbe.“

Die Psychokardiologie berücksichtigt nun auch die psychischen und sozialen Faktoren in der Diagnose und Behandlung von Herzerkrankungen. Um das Symptom „Herzinfarkt“ wirklich zu verstehen, ist es nötig, den Boden, auf dem es wächst und gedeiht, gründlich zu untersuchen. Der Nährboden für Herz- Kreislauferkrankungen hat sich in den letzten Jahrzehnten dramatisch verbessert.

Risikofaktoren wie erhöhte Blutfette, Übergewicht, hohes Cholesterin, Bewegungsarmut, Zuckerkrankheit, erbliche Belastung und Rauchen tragen ebenso dazu bei wie seelische Faktoren, die als Sammelbegriff „Stress“ bezeichnet werden. Darunter versteht man einerseits Hetze, Eile, Druck und andererseits verdrängte Probleme, die schon lange als innere Spannung existieren. Der Kabarettist und Psychotherapeut Bernhard Ludwig, der mit seinem stets ausverkauften Programm „Anleitung zum Herzinfarkt“ seit Jahren Humoriges zum Thema beiträgt, meint: „Die Spielregeln sind die gleichen, ob ich einen ersten oder einen zweiten Herzinfarkt vermeiden will: Körperliche Risikofaktoren vermindern, sich mit den psychischen auseinandersetzen, über sich selbst lachen können.“

Was sind diese seelischen Faktoren, die bei einem Herzinfarkt eine Rolle spielen? Herzprobleme sind immer auch Herzensprobleme. Schon der Volksmund kennt den Zusammenhang zwischen physischem Herzen und den Gefühlen. Wenn etwas bewusst oder unbewusst unerträglich ist, beginnt es zu „bluten“ und „verschließt sich“. Ein solches Herz ist dann „kalt“, „erstarrt“ und schließlich gänzlich „verschlossen“. „Ins Herz getroffen“ werden wir nicht nur von Kugeln oder Messern, sondern auch von verletzenden Worten oder Handlungen. Wer kann es also einem solch gequälten Herzen verdenken, dass es unter Schmerzen um Hilfe schreit?

Der Arzt Rüdiger Dahlke schreibt in seinem Buch „Herz(ens)probleme“: „Taubheit gegenüber den eigenen Gefühlen und auch denen der Umwelt ist typisch für Herzpatienten. Sie müssen lernen, sich die eigene Gefühlswelt wieder bewusst zu machen. Ohne Kontakt zu ihrem Herzen als Zentrum ihres wahren Wesens sind sie im wahrsten Sinne des Wortes Heimatvertriebene und leben in einer Art innerer Verbannung.“ Ein Mensch, der zu einem Infarkt neigt, hat Charakterzüge, die in der Herzmedizin als „A-Typ“ bezeichnet werden. Er will immer der Erste sein, steht ständig unter Leistungsdruck und braucht verstärkt Anerkennung von außen. Vor Kritik und Misserfolg hat er große Angst. Er tut oft viele Dinge gleichzeitig und will in möglichst jedem Lebensbereich die totale Kontrolle. Die Grundstimmung ist häufig gereizt und Entspannung kennt er nicht. Das Leben ist ein ununterbrochener Wettkampf, in dem auch ein Sieg keine wirkliche Entlastung bringt, sondern nur Ansporn ist, mehr in noch kürzerer Zeit zu erreichen. Sein eigentliches Ziel bleibt unklar und im Endeffekt ist er trotz aller Erfolge mit sich und der Welt unzufrieden. Der ruhelose Arbeitseinsatz des Infarktkandidaten spiegelt sich körperlich in der Höchstleistung, die sein Herz zu erbringen hat. Schließlich verstopft der Infarkt alles und es geht nichts mehr hinein oder hinaus. Das charakterisiert auch die innere Situation des Menschen. Schon lange vorher ließ er keine Gefühle mehr von außen an sein Herz heran. Nichts „ging ihm zu Herzen“ und er bemerkte es nicht einmal. Indem auch nichts mehr in seinem Leben „von Herzen“ kam, ließ er auch nichts mehr aus sich heraus.

Wie verläuft die ideale Therapie nach einem Herzinfarkt? Prim. Dr. Schmoll: „Neben der Einnahme der verordneten Medikamente müssen, beginnend bei der stationären und ambulanten Rehabilitation, die Risikofaktoren gesenkt oder beseitigt werden. Genauso wichtig ist es aber, die seelische Situation des Patienten zu beachten. Viele werden depressiv, weil sie sich Sorgen um ihre finanzielle Situation machen, nicht mehr so leistungsfähig sind wie früher, Angst haben an ihre Grenzen zu gehen und sexuelle Probleme befürchten. Aber leider hat sich die Psychokardiologie bis heute nicht in dem Maße etabliert, wie das wünschenswert wäre. Das Wissen um den Zusammenhang zwischen seelischer Belastung und Herzerkrankung hat in die Gehirne der meisten Ärzte noch nicht Einzug gehalten. Da ist uns zum Beispiel die Psychoonkologie (seelische Einflüsse bei Krebs) weit voraus“. Eine psychologische Behandlung sollte also sowohl die unmittelbaren Ängste im Krankheitsverlauf berücksichtigen als auch die psychischen Strukturen beleuchten, die als Risikofaktor „Stress“ für den Infarkt mitverantwortlich waren (übertriebener Perfektionismus, Arbeitssucht, Unterdrücken von Gefühlen …). Die Erfahrung der Todesangst während eines Infarktes führt häufig dazu, dass der Betroffene sich mit dem Sinn des Lebens und spirituellen Fragen auseinandersetzt: Gibt es eine höhere Macht und was bedeutet das für mich? Ist der Tod das Ende oder gibt es ein Danach? Welche Prioritäten habe ich bis jetzt gesetzt? Nicht selten machen Infarktpatienten mehr aus dem Rest des Lebens als aus dem Teil davor. Sie nehmen Abschied von einem Teil ihrer selbst. Und so schafft ein Herzinfarkt das, was dem tüchtigsten Therapeuten oder dem besorgtesten Partner nicht gelungen ist – eine Verhaltens- und Einstellungsänderung des Patienten, die vorher undenkbar schien. Kettenraucher trennen sich von der Zigarette, Bewegungsmuffel traben den Waldweg entlang und eingeschworene Schnitzel- und Pommes-Fans knabbern an Gemüse. Härteste Geschäftsleute entdecken plötzlich ihr Herz (!) für die Familie, die bisher so nebenbei existierte, beginnen zu meditieren oder führen verstärkt Gespräche mit Gott. Sie gestehen sich ihre Verletzlichkeit ein, erkennen die Sinnlosigkeit einer rastlosen Getriebenheit und legen den Ehrgeiz ab, überall Erster sein zu müssen. Sie erkennen, dass sie nicht nur Pflichten gegenüber der Umwelt haben, sondern auch gegen sich selbst.

Der Unternehmer Ewald Bauer war gerade fünfzig Jahre alt, als er im gleichen Alter wie sein Großvater und Vater einen Herzinfarkt erlitt: „Zunächst bin ich das Unwohlsein übergangen, aber dann wurde das Brennen in der Brust so stark, als ob ich Salzsäure geschluckt hätte. Meine erbliche Belastung war mir klar, aber als ich im Spital an die Decke starrte, war da nur ein Gedanke: Warum ich? Ich erholte mich soweit gut, aber drei Monate später bekam ich in der Nacht schreckliche Angstzustände. Ich rang nach Luft und konnte überhaupt nicht mehr schlafen. Irgendwie war mir klar, dass das von der Psyche kam. Ich litt auch an Depressionen, weil ich nicht mehr so „funktionierte“ wie früher. Eine mentale Entspannungsmethode hat mir sehr geholfen und bald ging es mir besser.

Ich lebe heute viel bewusster, genieße mehr und schätze mein Familienleben. Ich mache Bewegung, höre entspannende Musik und bete sogar wieder. Mein Rat an andere Betroffene: Mit einem Arzt des Vertrauens sprechen und die Ratschläge auch befolgen. Ich habe das Rauchen zwar noch nicht ganz aufgegeben, aber immerhin reduziert. Und sich auf keinen Fall selbst fertig machen.“

Michael Obert ist knapp über fünfzig und ein cooler Typ. Als er die ersten Symptome an sich bemerkte, sah er noch im Internet nach, ob sich da jetzt wirklich ein Herzinfarkt ankündigt. Dann erst verständigte er den Notarzt.

„Ich habe immer wieder gedacht – sechzig werde ich nie. Mein Vater hatte zwei Infarkte und somit bin ich erblich belastet. Mein Leben war schubweise eher stressig. Ich arbeitete früher als Journalist und dann als Webdesigner. Stundenlang saß ich am Computer, rauchte 35 Zigaretten am Tag und ernährte mich ungesund. Wirkliche Angst hatte ich nur während des Geschehens selbst und ich muss ehrlich sagen, dass sich meine Lebensqualität seit dem Herzinfarkt eigentlich gebessert hat. Ich gehe früher schlafen, esse Gemüse und bewege mich. Der wichtigste Punkt: Ich gehe alles ruhiger an. Ansonsten war und bin ich glücklich verheiratet und hoffe, dass sich dieser Vorfall nicht wiederholen wird“.

Die innere Aufgabe des Infarktpatienten heißt, sich von der Enge des Druckes und der (oft uneingestandenen) Angst, nicht gut genug zu sein, zu lösen. Das Herz als Mittelpunkt des eigenen Wesens wartet. Wenn es sich durch körperliche und seelische Symptome bemerkbar macht, ist das lediglich ein Zeichen, dass es sehnsüchtig darauf hofft, dass sein Besitzer endlich versteht, was im bisherigen Leben nicht optimal gelaufen ist. Die Botschaft eines Herzinfarktes lautet: „Öffne dich der Liebe. Für andere, das Leben, aber auch für dich selbst.“

TIPPS VOM EXPERTEN Dr. Georg Titscher, Kardiologe und Psychotherapeut. Leiter der Psychosomatik-Ambulanz für Herzpatienten im Hanusch Krankenhaus:

  1. Ein Herzinfarkt ist ein starker Einschnitt im Leben. Gestehen Sie sich selbst zu, dass Sie Zeit brauchen, dieses Ereignis zu verarbeiten.
  2. Bis zu 50% der Betroffenen leiden in der Zeit nachher an Depressionen. Sprechen Sie unbedingt mit Ihrem Arzt, wenn Sie Anzeichen dafür bemerken (Stimmungsschwankungen, Schlafprobleme, Ängste …) und versuchen Sie nicht, diese zu ignorieren.
  3. Auch der Partner ist mitbetroffen. Lassen Sie ihn (sie) an Ihrem Gefühlsleben teilhaben und sprechen Sie über Ängste, Sorgen und Probleme
  4. Sprechen Sie auch offen über etwaige sexuelle Probleme. „Lustverlust“ oder Erektionsschwierigkeiten können Folgen eines Infarktes sein.
  5. Lernen Sie ein Entspannungstraining (Autogenes Training, Meditation, Jacobson …). Für Infarktpatienten besonders wichtig!
  6. Kontaktieren Sie bei Bedarf eine Selbsthilfegruppe.
  7. Nehmen Sie ruhig psychologische Hilfe in Anspruch. Das ist kein Schwächeeingeständnis, sondern vernünftig.

ZUM NACHDENKEN:
(von einer unbekannten Patientin)

  • Hast du in letzter Zeit beobachtet, wie die Natur sich verändert?
  • Gelauscht, wie der Regen aufs Dach prasselt?
  • Hast du einen Sonnenuntergang bewundert?
  • Du solltest einmal anhalten.
  • Tanze nicht so schnell, denn das Leben ist so kurz.
  • Die Musik dauert nicht ewig.
  • Bist du den ganzen Tag in Eile?
  • Du solltest ein wenig bremsen.
  • Hast du jemanden verletzt, weil dir die Zeit fehlte, über deine Worte, über dein Handeln nachzudenken?
  • Hast du den Kontakt zu einem Freund verloren, weil du nie Zeit fandst, ihm guten Tag zu sagen?
  • Die Musik hört eines Tages auf zu spielen.
  • Das Leben ist kein Wettlauf.
  • Nimm dir Zeit die Musik anzuhören, bevor das Lied zu Ende ist.

LITERATURDahlke:

„Herz(ens)probleme“, Knaur Verlag

Gerhard Blümchen:

„Herzinfarkt – Rat und Hilfe für Betroffene und Angehörige“, Kohlhammer Verlag

Christian Barnard:

„50 Wege zu einem gesunden Herzen“, NP Buchverlag,